Digital & vernetzt: Ökosysteme für mehr Widerstandsfähigkeit im Gesundheitswesen

Ökosysteme

Veröffentlicht 06.05.2022 07:10, Dagmar Finlayson

In der Gesundheitsbranche ist es schon längst kein Geheimnis mehr, dass es in vielen Bereichen großen Nachholbedarf gibt, um den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Doch erst mit der Corona-Pandemie ist auch einer breiten Öffentlichkeit bewusst geworden, dass Deutschland in diesem Bereich enorm in Rückstand geraten ist. Digitale Technologien bieten große Chancen, um den Gesundheitsmarkt zu modernisieren und so umzugestalten, dass er zu den veränderten Patientenbedürfnissen und -erwartungen passt.  Doch welche Voraussetzungen und Fähigkeiten benötigen Unternehmen und Organisationen, um diese Möglichkeiten zu nutzen und wovon profitieren Patient*innen am meisten?

Laut einer Studie der Expertenkommission Forschung und Innovation des Fraunhofer Instituts aus dem Februar 2022 verschlechtert sich die Position Deutschlands in internationalen Rankings in Bezug auf Digitalisierung im Gesundheitswesen und E-Health zunehmend. Die Ursache für diese Entwicklung ist, dass die wesentlichen Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Digitalisierung nicht rechtzeitig geschaffen wurden. Dazu zählen zum Beispiel der Aufbau einer zuverlässigen digitalen Infrastruktur oder eine effiziente Vernetzung unterschiedlicher Akteure im Gesundheitssystem.

Um zu vermeiden, dass uns in Zukunft Krisen, wie zum Beispiel die Corona-Pandemie, erneut derart treffen und um auf künftige Herausforderungen besser vorbereitet zu sein, muss im Gesundheitswesen ein Ökosystem aus Unternehmen und Organisationen geschaffen werden. Ein Unternehmen allein kann den momentanen Anforderungen nur bedingt gerecht werden. Ziel muss es sein, organisationsübergreifend Daten zu nutzen, um so vernetzte Lösungen und Dienstleistungen anzubieten. Es muss ein Übergang von isolierten Produkten und Insellösungen hin zu strategisch vernetzten Diensten geschaffen werden, damit durch eine effektive Koordination aller Gesundheitsdienstleister eine ganzheitliche Behandlung garantiert werden kann,

Basis für die Gesundheitsbranche schaffen

Wenn es darum geht die richtigen Voraussetzungen für Ökosysteme in der Gesundheitsbranche zu schaffen, muss Deutschland in diesem Bereich deutlich aktiver werden. Vor allem bürokratische Hürden und der hohe Regulierungsgrad im Gesundheitswesen, die Unternehmen momentan noch vor große Herausforderungen stellen, müssen abgebaut bzw. auf Effizienz überprüft werden. Dazu gehört auch die Festlegung klarer Verantwortlichkeiten bei Themen wie Datenschutz und Datensicherheit, damit Risiken nicht allein bei Unternehmen und Organisationen liegen.

Die Basis für die Etablierung eines breit gefächerten Ökosystems bildet auch die Entwicklung einer stabilen und zuverlässigen digitalen Infrastruktur sowie die digitale Befähigung aller Beteiligungsgruppen. In Zukunft wird es essenziell sein, Personal aus der Gesundheitsbranche nicht nur fachspezifisch, sondern auch im Umgang mit digitalen Technologien zu schulen und diesen Punkt fest in der Ausbildung zu verankern. Zudem benötigt Deutschland eine gesamtheitliche E-Health-Strategie, die eine Zusammenarbeit über das gesamte Gesundheitssystem hinweg gewährleistet. Damit möglichst alle Interessen und Ziele berücksichtigt werden, müssen alle Akteure auf diesem Weg von Beginn an mit einbezogen werden. Dazu zählen nicht nur große Krankenhausverbände, Gesundheitsorganisationen oder Versicherungen, sondern auch Start-Ups, die innovative E-Health Lösungen entwickeln.

Daten sind das Rückgrat jedes Ökosystems

Handlungsbedarf auf dem Weg zu einer effizienten und kooperativen Gesundheitslandschaft besteht auch auf der Seite der Unternehmen. Wie eingangs bereits erwähnt, kann ein Unternehmen allein den aktuellen Herausforderungen kaum gerecht werden. Deshalb müssen sich alle Akteure darüber bewusst werden, dass der Wert für jeden Einzelnen durch die Verknüpfung und Kollaboration aller definiert wird. Das bedeutet aber auch: Unternehmen und Organisationen müssen sich öffnen und ihre Daten in einem gemeinsamen und sicheren Netzwerk für alle verfügbar machen. Das Ablegen von Ressortegoismen und der Angst, dass die eigenen Interessen zu kurz kommen, ist dabei essenziell.

Der Weg zu einem erfolgreichen Unternehmen innerhalb eines gut funktionierenden und vernetzten Ökosystems bedarf außerdem einer genauen Analyse des eigenen Dienstleistungsportfolios. Gerade im Gesundheitssektor ist der wichtigste Punkt, den ein Unternehmen bzw. eine Organisation hinterfragen und mit Daten belegen muss: Ist mein Geschäftsmodell auch wirklich an den Patient*innen und deren Bedürfnissen ausgerichtet, oder gibt es hier noch Optimierungspotenzial? Als Teil eines vernetzten Systems gilt es zudem sicherzustellen, dass ein nahtloser Zugriff und die Interoperabilität mit anderen Akteuren im Ökosystem gewährleistet ist. Zuletzt ist zu beachten, dass die zugrundeliegenden Technologien von Lösungen und Produkten standardisierbar sind, sodass sie auch für andere leicht zugänglich und skalierbar sind. Beachten Unternehmen all diese Punkte – Patientenorientierung, Interoperabilität und Datennutzung sowie Modularität und Skalierbarkeit – sind sie innerhalb eines Ökosystems gut aufgestellt und erkennen schnell, in welchen Bereichen es noch Verbesserungspotenzial gibt.

Bessere Versorgung durch mehr Überblick

Die klassische Patientenreise sieht aktuell noch immer fragmentarisch aus: Arztbesuche, Tests, Überweisungen, Rezepte, Medikamente und an jeder Stelle immer wieder aufs Neue Symptome und Beschwerden erklären. Oft werden dabei Patient*innen nur unzureichend mit den notwendigen Informationen versorgt und es fehlt an der notwendigen Unterstützung und Nachsorge, um Krankheiten schnell und erfolgreich zu überwinden. Handelt es sich gar um chronische Probleme, sind die Erfahrungen oft noch sehr viel ernüchternder.

Mit funktionierenden Prozessen innerhalb eines Ökosystems kann diese Reise ganz anders aussehen. Klar ist: Den größten Nutzen von einem vernetzten Gesundheitssystem haben die Patient*innen. Durch eine effektive Koordination aller in Anspruch genommenen Gesundheitsdienstleister profitieren sie von einer ganzheitlichen Behandlung, die alle Schritte auf dem Weg zur Genesung in den Blick nimmt. Eine moderne Versorgung könnte dann so aussehen: Zu Beginn einer Behandlung werden einmalig Symptome und Beschwerden der Patient*innen aufgenommen. Mit dem richtigen Anamnesetool lassen sich diese Informationen sowie alle weiteren Daten, die während der Untersuchung gesammelt werden, gespeichert und können von jedem, der in Zukunft an der Behandlung beteiligt sein wird, abgerufen und ergänzt werden. Durch den ganzheitlichen Blick, den jeder Akteur in einem offenen Ökosystem hat, können beispielsweise Medikamente individueller und effizienter aufeinander abgestimmt werden. Der Weg hin zur Genesung kann zudem durch digitale Unterstützungsdienste verbessert werden: Apps, die dabei helfen, Symptome und Heilungsfortschritt im Auge zu behalten, an die Einnahme von Medikamenten erinnern oder Ernährungspläne zur Verfügung stellen.

Doch nicht nur die Patient*innen profitieren von ganzheitlichen Servicelösungen und einem vernetzten Gesundheitswesen. Auch für Unternehmen ergibt sich dadurch die Möglichkeit Kosten zu senken, neue Einnahmequellen zu erschließen und Geschäftsmodelle zu erweitern. Gleichzeitig sorgen die hohe Diversität und Elastizität eines Ökosystems für mehr Widerstandsfähigkeit und somit für größere Resilienz aller Beteiligten auch bei unvorhergesehenen Ereignissen.

 

Autor:

Sven-Anwar Bibi

Sven-Anwar Bibi verfügt über langjährige Erfahrung in der Strategie- und Innovationsberatung sowie in der Nutzerforschung im Rahmen der Produktentwicklung von analogen und digitalen Produkten und Dienstleistungen. Er gründete und leitete das Connected Living Venture innerhalb der PwC IXDS GmbH zwischen 2015 und 2020 zusammen mit einem Team aus Designern, Innovatoren und Forschern. Bei Futurice leitet er das Strategy & Culture Team in Deutschland und den Themenbereich Gesundheit. Er ist verantwortlich für den Account- und Beziehungsaufbau mit national und international agierenden Unternehmen (z.B. BSH, Bosch Healthcare Solutions, Smith+Nephew, Vaillant, Vorwerk, SPIE) sowie für Beratungen im Kontext der digitalen Transformation.

Symbolbild: Pixabay/kaboompics


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