„IT entlastet das Krankenhaus-Personal und schafft Freiräume für die intensivere Betreuung von Patienten“

Interview

Veröffentlicht 03.01.2022 10:00, Dagmar Finlayson

Über die Auswirkungen der Digitalisierung des Gesundheitswesens sprach das Krankenhaus-IT Journal mit Dr. Thorsten Vogel, Leiter des Geschäftsbereichs Health bei adesso SE

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist eine enorme Herausforderung. Welche innovativen Ansätze verfolgen Sie, welche Lösungen können Sie anbieten?

adesso SE ist ein unabhängiger IT-Dienstleister mit den drei Schwerpunkten Entwicklung von Individual-Software, Software-Integration und Consulting. Für unsere Kunden konzipieren und implementieren wir den jeweils richtigen Mix aus unseren eigenen Lösungen, wie beispielsweise unserem DiGA-Factory-Portfolio, und von uns evaluierter Standard-Software, etwa aus dem Bereich Customer Relationship Management (CRM) oder Enterprise Resource Management (ERP). Um anbieter- und technologieneutral beraten zu können, pflegen wir Partnerschaften mit praktisch allen namhaften Anbietern wie SAP, Microsoft oder Salesforce. Der sichere interoperable Datenaustausch medizinischer Patientendaten ist für die meisten unserer Anwendungen Grundvoraussetzung und Standard. Unser DiGA-Factory-Portfolio ist dabei die Plattform, auf der wir innovative digitale Gesundheitsanwendungen im Bereich Personal Health standardisiert, schnell und kostengünstig bauen können. Beispiele dafür sind Services zur Medizinproduktzulassung, zur Umsetzung regulatorischer Vorgaben, zu Abrechnungssystemen sowie zur medizinischen Dokumentation. Zudem sind wir Lizenznehmer des ePA-Produktportfolios unseres Partners RISE und können dieses sowohl implementieren als auch auf Kundenwunsch mit maßgeschneiderten Leistungsumfängen in die Backend-Systeme der Kunden anpassen und integrieren. Abgerundet wird dieses Portfolio durch unsere digitale ID-Lösung auf Basis der adesso-ID, die ein hohes eIDAS-Schutzniveau bietet.

Wie können Sie mit Ihren Lösungen die Anforderungen der Ärzte und Pflegekräfte optimal unterstützen?

Wir konzentrieren uns hier auf zwei Bereiche: Erstens Digitale Pflegeanwendungen (DiPA) und zweitens Dienstleistungen bei den Fördertatbeständen der KHSFV (Krankenhausstrukturfonds-Verordnung). Die Digitalen Pflegeanwendungen sollen als SGB XI Leistungsanspruch für pflegende Angehörige ab 2022 verfügbar sein. Dabei geht es um die Entlastung der Pflegekräfte durch digitale Pflegeanwendungen und die Unterstützung der informellen Pflege. Wir helfen Herstellern und Anbietern von digitalen Pflegeanwendungen mit unserem DiGA-Factory-Portfolio, innovative und nutzenstiftende Anwendungen sehr schnell anbieten zu können. Mit der Unterstützung durch adesso können sie sich voll und ganz auf die innovativen Kernfunktionen ihrer Anwendungen konzentrieren. Wir gehen davon aus, dass dies einen enormen Schub für digitalisierte Leistungen bringen wird. Im zweiten Anwendungsfeld unterstützen wir Krankenhäuser durch unsere Dienstleistungen bei allen Fördertatbeständen der KHSFV zur Digitalisierung der Prozesse im Verlauf eines Krankenhausaufenthaltes und beim intersektoralen Datenaustausch. Da die Förderung einzelner Fördertatbestände in einer Gesamtstrategie und -Architektur aufgehen sollte, helfen wir Kliniken mit unserem Assessment auch bei der zentralen Ausrichtung ihrer IT-Infrastruktur und bieten zusammen mit unseren Partnern konkrete Lösungen dafür an. Die Anforderungen und Vorgaben bezüglich Informationssicherheit und Datenschutz werden durch Angebote zur Einführung von Informationssicherheitsmanagementsystemen (ISMS) nach ISO 27.001 erfüllt.

Was sind die Voraussetzungen, dass die Umsetzung von Digitalisierungsstrategien in den Krankenhäusern funktioniert bzw. vorankommt?

Auf dem Weg zur digitalen Transformation im Gesundheitssystem sehen wir vier erfolgsentscheidende Faktoren: Erstens die Öffnung der Krankenhausinformationssysteme (KIS) über interoperable Schnittstellen. Das ist die Voraussetzung, um innovative Anwendungen in vorhandene Workflows zu integrieren, herstellerunabhängig auf die individuellen Bedürfnisse zu erweitern, und mit Drittsystemen verbinden zu können. Zweiter wichtiger Punkt ist die Einführung von sicheren Vernetzungsplattformen, damit alle Behandler auf die gleichen medizinischen Primärdaten zugreifen. Da kann die ePA bereits helfen, sie reicht jedoch für die intersektorale Behandlung bei weitem nicht aus. Hierzu müssen patientenzentrierte Plattformen entstehen, die eine durchgängige Versorgung und Einbindung Betroffener ermöglichen. Dritte Wegmarke ist die Überwindung der permanenten Ressourcen-Knappheit und der Überlastung der lokalen IT-Teams in den Krankenhäusern. Aus Erfahrung wissen wir, dass viele Ressourcenfresser innerhalb der Krankenhaus-IT durch eine partielle Verlagerung von IT-Strukturen in sichere, DSGVO-konforme Fullservice-Clouds beseitigt werden können. In der aktuellen Situation können viele nützliche und nutzenstiftende IT-Projekte nicht verwirklicht werden, weil lokale IT-Ressourcen im Krankenhaus schlicht nicht verfügbar sind. Daher arbeiten wir auch hier zusammen mit einer Reihe von Partnern an einer europäischen, DSGVO-konformen Health-Cloud-Lösung für Services und Daten, die nach aktuellem Stand nicht von US-Hyperscalern gehostet werden dürfen. Alle diese Aktivitäten müssen – und das ist der vierte Punkt – begleitet werden von verlässlichen politischen Rahmenbedingungen zur Digitalisierung. Entsprechende Initiativen sind im Koalitionsvertrag festgehalten, jetzt brauchen Industrie und Gesundheitswesen gleichermaßen Nachhaltigkeit und Verlässlichkeit bei der Umsetzung.

Dr. Thorsten Vogel, Leiter des Geschäftsbereichs Health bei adesso SE (Quelle: privat)

Wie lässt sich Mehrwert für die Krankenhäuser durch IT-Lösungen erreichen?

Ansätze dazu haben wir in der vorherigen Frage bereits aufgezeigt. Die daraus zu hebenden Mehrwert-Potenziale sind enorm. IT kann das Krankenhaus-Personal durch smarte Prozesse auf allen Ebenen entlasten: von Pflegern und Ärzten bis zu den Mitarbeitern in Logistik und Verwaltung. Durch die so entstehende Befreiung von vielen administrativen Aufgaben bleibt mehr Zeit für die Hinwendung zum Patienten, respektive die Entscheidungsunterstützung im Behandlungs- oder Leistungsmanagement. Gleichzeitig sorgt IT für mehr Patientensicherheit, unterstützt medizinische Entscheidungen, erleichterte die Dokumentation und ermöglicht neue, diskrete, nicht invasive Patientenüberwachungslösungen. Mit IT-Unterstützung können auch eine bessere Patientenversorgung und eine höhere Transparenz umgesetzt werden. Patienten bekommen zu jeder Zeit Einblick in ihre diagnostischen und therapeutischen Daten, können Fragen loswerden, Angehörige einbinden oder in Form von Patient reported outcomes ihre Bewertungen abgeben. Zudem können Operationen zur Verkürzung der Behandlungszeiten im Vorfeld mit Hilfe von Apps trainiert werden. Und nicht zuletzt trägt IT – richtig genutzt – erheblich zur dringend notwendigen Kostenreduktion bei, etwa bei der Erhebung, dem Abgleich und der Validierung von Daten mittels Prozessautomatisierung. Dies gilt für die Stationsplanung ebenso wie für das Personalmanagement oder das Controlling.

Wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung in Krankenhäusern bezüglich der IT-Lösungen und der gesamten digitalen Transformation ein?

Insbesondere öffentliche Krankenhäuser dürfen sich bezüglich ihrer IT-Systeme nicht weiter verzetteln und müssen daher ihre Kräfte bündeln. Aus Sicht der IT bedeutet das, einen Großteil ihrer Standardanwendungen nicht mehr mit unnötig großem Aufwand intern „on premises“ zu fahren, sondern aus einer Fullservice-Cloud zu beziehen. Das betrifft eine ganze Reihe wichtiger Anwendungen wie Interoperabilitätsplattformen, die Anbindung an die Telematik-Infrastruktur und Fachdienste, die Anbindung von DiGA-Plattformen, konfigurierbare Services und Workflows, die Device-Integration von medizinischen Geräten und die sichere, DSGVO-konforme Datenhaltung. Ein Vendor-Lock-in, also die Abhängigkeit von einzelnen Anbietern wie zum Beispiel bei KIS und anderen Basissystemen, behindert Innovationen und deren schnelle Verfügbarkeit im Krankenhaus. Daher sollten sich KIS-Hersteller und Hersteller anderer Basissysteme öffnen für IT-Dienstleister, die Erweiterungen und integrierte Anwendungen schaffen können. Systeme mit Plattformcharakter markieren hier einen wichtigen Schritt nach vorn. Die Entwicklung geht erkennbar weg von den alten, starren Monolithen der Krankenhaus-IT, hin zu flexiblen Services, die sich an den Bedürfnissen der Patienten und des Krankenhaus-Personals orientieren. So verändert sich auch die IT-Organisation selbst zum agilen Gestalter der unternehmenskritischen Prozesse. Am Ende dient Digitalisierung den Menschen – nicht umgekehrt!

Symbolbild: Pixabay/geralt


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