In der Fertigungsindustrie sind digitale Zwillinge bereits heute weit verbreitet, und jetzt setzen sie sich auch im Gesundheitswesen immer weiter durch. Virtuelle Abbilder von Patienten machen es möglich, Krankheiten besser zu diagnostizieren, Medikamente schneller zu entwickeln und die Wirksamkeit von Therapien vorab zu testen. An entsprechenden Verfahren und Technologien wird daher international und auch in Deutschland mit Hochdruck geforscht.
Demografischer Wandel, steigende Kosten und Fachkräftemangel stellen die Verantwortlichen im Gesundheitswesen vor massive Herausforderungen. Die sich verändernde Alterspyramide sorgt für einen steigenden Bedarf an Gesundheits- und Pflegeleistungen, wodurch sich wiederum der Finanzierungsdruck erhöht. Zudem leidet wegen des notorischen Mangels an Fachpersonal auch die Versorgungsqualität. Ein großer Hoffnungsträger zur Lösung dieser Probleme ist die Digitalisierung. Informationstechnologie kann administrative Abläufe automatisieren, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten verbessern und die Pflege unserer alternden Gesellschaft durch Assistenzsysteme unterstützen.
Digitale Zwillinge kommen im Gesundheitswesen an
Ein Technologietrend, der dabei das Gesundheitswesen langfristig revolutionieren könnte, sind „Digital Twins“, also „Digitale Zwillinge“. Seinen Ursprung hat diese Technologie in der Fertigungsindustrie. Unternehmen dieser Branche nutzen schon seit längerem digitale Abbilder der Maschinen, die sie produzieren, um deren Entwicklung und Herstellung zu optimieren und ihren Einsatz in den Fabriken zu überwachen und zu steuern. Das physische Original und sein virtuelles Abbild stehen dabei ständig miteinander im Austausch. Jede Änderung in der Realität wird nahezu in Echtzeit in der virtuellen Welt nachvollzogen. Und bevor neue Prozesse an der physischen Maschine umgesetzt werden, lassen sie sich an ihrem Digitalen Zwilling virtuell testen.
Dieses Konzept hält jetzt auch zunehmend Einzug in das Gesundheitswesen. Digitale Zwillinge von einzelnen Organen, Kreislaufsystemen oder sogar ganzen Menschen bergen sowohl in der medizinischen Forschung als auch bei der Behandlung von Patienten ein immenses Potenzial. Pharmazeutische Unternehmen beispielsweise erhalten die Möglichkeit, mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz an Digitalen Zwillingen zu simulieren, wie gut ein neues Medikament anschlägt und welche Nebenwirkungen es verursacht. Ärztinnen und Ärzte können vor einer Operation die Erfolgsaussichten eines chirurgischen Eingriffs abschätzen oder die Reaktion eines Patienten auf eine Therapie simulieren.
Gemeinnützige Organisation erforscht die Langzeitfolgen von Covid-19
Viele Institutionen und Organisationen des Gesundheitswesens forschen bereits an und teilweise sogar schon mit Digitalen Zwillingen. So hat beispielsweise die „i2b2 Transmart Foundation", eine weltweite tätige gemeinnützige Forschungsorganisation, aus den anonymisierten Daten von abertausenden Covid-Patienten digitale Zwillinge erzeugt, an denen sie nun Millionen individueller Behandlungsoptionen simuliert. Ihr Ziel ist es, die Langzeitfolgen von Covid-19 zu erforschen und Behandlungen zu entwickeln, die präzise auf individuelle Patienten und ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.
Auch das Digital Cancer Research Center der Universität von Limerick in Irland hat jüngst mit der Entwicklung einer Plattform für Künstliche Intelligenz und Digitale Zwillinge begonnen. Sie soll künftig in der Onkologie-Forschung zum Einsatz kommen. Mit der Plattform will das Research Center das Testen von Biomarkern für Krebserkrankungen rapide beschleunigen und ein besseres Verständnis dafür erlangen, wie Patienten mit B-Zell-Lymphomen am effektivsten zu behandeln sind. Zudem will es mit der Plattform personalisierte Therapien entwickeln, die auf den individuellen Tumormerkmalen von Patienten basieren.
Uniklinik der RWTH Aachen und Universitätsklinikum Bonn entwickeln Digital Twins
In Deutschland forscht unter anderem die Uniklinik der RWTH Aachen an digitalen Zwillingen. Sie will Digital Twins vor allem dazu nutzen, um krankheitsrelevante Parameter für individuelle Patienten zu simulieren. Durch die Simulation in der Operations- und Therapieplanung beispielsweise möchte die Klinik in Zukunft die Behandlung ihrer Patienten unterstützen und das Gesundheitspersonal entlasten.
Ein weiteres Beispiel ist der „Innovate Secure Medical Campus” der Kompetenzplattform KI.NRW, ein Kooperationsvorhaben zwischen dem Universitätsklinikum Bonn und dem Bonner „Cyber Security Cluster“, der ebenfalls plant, Digitale Zwillinge zu entwickeln. Ziel des Campus ist es, damit bei komplexen Erkrankungen die Wirkungen und möglichen Nebenwirkungen unterschiedlicher Therapien und Medikationen zu simulieren. Anhand der Ergebnisse soll dann mittels KI-basierter Clinical-Decision-Support-Systeme die optimale Behandlungsvariante festgelegt werden. Angedacht ist außerdem der Einsatz einer Augmented-Reality-Lösung, die Ärzten bei Bedarf relevante Informationen des Digitalen Zwillings in einer Datenbrille einblendet.
Leistungsfähige und sichere IT-Infrastruktur erforderlich
Für die Forschung an digitalen Zwillingen und für ihren Einsatz benötigen die Einrichtungen extrem leistungsfähige und auch besonders sichere IT-Infrastrukturen. Die IT-Systeme müssen – insbesondere bei Simulationen – riesige Datenmengen verarbeiten können, etwa aus bildgebenden Scans, Labortests, elektronischen Krankenakten, tragbaren Überwachungsgeräten und aus empirischen Quellen wie historischen Patientenunterlagen. Dafür nutzen die Einrichtungen meist spezielle Systeme für High Performance Computing (HPC), die auf engstem Raum zahlreiche hochleistungsfähige Grafikkarten unterbringen und miteinander verknüpfen. Grafikkarten kommen zwar ursprünglich aus dem Bereich der Gaming-PCs, sind aber bei rechenintensiven Vorgängen deutlich schneller als die klassischen Prozessoren und werden deshalb heute auch für Aufgaben wie maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz eingesetzt.
Mindestens genauso wichtig wie die Leistung ist die Sicherheit. Wenn beispielsweise Pharmaunternehmen mit Hilfe digitaler Zwillinge neue Medikamente entwickeln, handelt es sich dabei um wertvolles geistiges Eigentum, das Begehrlichkeiten wecken kann und deshalb umfassend geschützt werden muss. Zudem verarbeiten digitale Zwillinge im Gesundheitswesen Patientendaten – und damit hochsensible persönliche Informationen, die gerade in Deutschland und Europa besonders strengen Datenschutzgesetzen unterliegen.
In der Regel ist es deshalb besser, wenn die Einrichtungen ihre digitalen Zwillinge on-premises betreiben, also im eigenen Rechenzentrum, oder von einem selbst ausgewählten IT-Dienstleister betreiben lassen. Dann gelangen keine sensiblen Daten in letztlich unkontrollierbare öffentliche Clouds. Für den Betrieb stehen Gesundheitsinstitutionen und IT-Dienstleistern Infrastruktur-Systeme zur Verfügung, die umfassend geschützt sind: von der Kontrolle der Lieferkette und der Erkennung von Schadsoftware auch unterhalb der Betriebssystem-Ebene bis zu strengen Identitäts- und Zugriffsprüfungen sowie physischen Schutzvorkehrungen.
Internationales Konsortium definiert Anforderungen für Standards
Derzeit steckt die Technologie der digitalen Zwillinge im Gesundheitswesen noch in den Kinderschuhen. Insbesondere für die Realisierung komplexerer Digital Twins mangelt es noch an Standards und Interoperabilität für eine übergreifende IT-Infrastruktur, um Daten aus den unterschiedlichsten Quellen zusammenzuführen und für alle Beteiligten verfügbar zu machen. Daran arbeitet aber unter anderem bereits das weltweite Digital Twin Consortium. Dessen Mitglieder entwickeln für zahlreiche Branchen technische Richtlinien, Taxonomien und Frameworks, definieren Anforderungen für Standards und tauschen Anwendungsfälle aus. Damit treibt das Konsortium Innovationen voran und beschleunigt die Entwicklung von Digital Twins – auch im Gesundheitswesen.
Bild: Digitale Zwillinge bieten in der medizinischen Forschung und der Behandlung von Patienten ein immenses Potenzial (Bild: Getty 85501309).
Autor:
Chris Kramar ist Managing Director OEM Solutions DACH bei Dell Technologies