Fliegende Ärzte revolutionieren Schlaganfallversorgung: Doppelte Chancen für mehr Lebensqualität

FIT

Veröffentlicht 08.10.2025 07:20, Kai Wehrs

Weniger Behinderungen, mehr Lebensqualität: Fliegende Ärzte verdoppeln die Chancen für Patient*innen nach einem Schlaganfall, Schlaganfallversorgung per Heli: Neue Daten nach 1.000 Flügen

Jährlich erleiden in Deutschland rund 270.000 Menschen einen Schlaganfall – es ist hierzulande die dritthäufigste Todesursache. In der München Klinik (MüK) Harlaching gibt es mit TEMPiS seit 2003 das größte telemedizinische Schlaganfallnetzwerk. 

Foto: Feierten beim FIT-Symposium gemeinsam mit den rund 100 geladenen Gästen den 1.000. Flug. Von links nach rechts: Dr. Gerhard Engler (ehemaliger FIT-Patient), Dr. Lucie Esterl Pfäffl (Projektkoordinatorin FIT, MüK Harlaching), Prof. Rüdiger Ilg (Partnerklinik Bad Tölz), Frédéric Bruder (Geschäftsführer ADAC Luftrettung gGmbH), Prof. Anastasios Mpotsaris (Chefarzt Neuroradiologie, MüK Harlaching), Dr. Gordian Hubert (Projektleiter FIT und Chefarzt Neurologie, MüK Harlaching), Dr. Götz Brodermann (Vorsitzender der Geschäftsführung, MüK), Gesundheitsministerin Judith Gerlach, Dr. Tim Guderjahn (Kaufmännischer Geschäftsführer, MüK) und Petra Geistberger (Geschäftsführerin/CHRO MüK). Bildnachweis: Steffen Leiprecht. 

Die Neurolog*innen unterstützen 25 Partnerkliniken per Live-Schalte (Telekonsil) bei der komplexen Diagnostik und Therapieentscheidung. TEMPiS ist die Basis des „Flying Intervention Teams“ (FIT), das im Jahr 2018 gegründet wurde. Denn seit 2015 ist erwiesen, dass neben der medikamentösen Lysetherapie auch die mechanische Thrombektomie gerade schwerbetroffenen Schlaganfallpatient*innen helfen kann – ein komplexer Kathetereingriff von der Leiste ins Gehirn, den nur spezialisierte Neuroradiolog*innen durchführen können.

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Schritt 1: Ein*e Neurolog*in, auf dem Bild Dr. Lucie Esterl-Pfäffl (Projektkoordinatorin und Oberärztin der Neurologie der MüK Harlaching), unterstützt die Partnerklinik über das TEMPiS Netzwerk per Telekonsil bei der Diagnose. Bildnachweis: LMU Klinikum. Bildnachweis: Pia Simon.

FIT bringt die Spezialist*innen und damit die Thrombektomie per Helikopter schnell aus dem Harlachinger Zentrum in 15 südostbayerische Partnerkliniken im Umkreis von bis zu 150 Kilometern. Das ist weltweit einzigartig und spart im Vergleich zur üblichen Patientenverlegung wertvolle Zeit. Aufgrund der eindeutigen Studienergebnisse wurde FIT nach der dreijährigen Pilotphase fest etabliert und die Flugzeiten ausgeweitet. Allein in den letzten zwei Jahren ist das Team zu knapp 500 Patient*innen geflogen. Den Meilenstein des 1.000. Fluges hat die Spezialeinheit der Lüfte nun am vergangenen Dienstag (7. Oktober) mit rund 100 geladenen Gästen bei einem Symposium gefeiert und in dem Rahmen neueste Projektdaten vorgestellt.

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Schritt 2: Sollte es sich um einen Schlaganfall handeln und ein spezieller Kathetereingriff (Thrombektomie) durchgeführt werden müssen, startet ein Team aus Neuroradiologe und Medizinisch-technischer Radiologieassistenz (MTRA) aus dem Zentrum per Helikopter. Parallel wird der/die Patient*in in der Partnerklinik bereits für den Eingriff vorbereitet. Bildnachweis: Pia Simon

1.000 Mal geflogen: FIT feiert mit Gesundheitsministerin und Bürgermeisterin
Neben Projektpartnern waren in feierlicher Kulisse im Heli-Hangar der ADAC Luftrettung gGmbH auf dem Harlachinger Klinikgelände auch ehemalige Patient*innen eingeladen, die in den letzten Monaten vom Harlachinger Team mit einem komplexen Kathetereingriff (Thrombektomie) versorgt wurden. Die bayerische Gesundheits-, Pflege- und Präventionsministerin Judith Gerlach und Münchens Bürgermeisterin Verena Dietl feierten mit und sprachen Grußworte.

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Schritt 3: Verstopft das Blutgerinnsel eine große Hirnarterie, kann es mechanisch mittels eines Katheters minimal-invasiv entfernt und die Durchblutung wiederhergestellt werden. Dazu wird der dünne Draht von der Leiste hoch ins Gehirn zum entsprechenden Gefäß geführt. Das FIT-Team führt die Thrombektomie direkt in der Partnerklinik durch. Das spart wichtige Zeit und verbessert die Lebensqualität der Patient*innen. Bildnachweis: Pia Simon.

Doppelt so hohe Chancen für Schlaganfallpatient*innen
Im Rahmen des Symposiums wurden die Forschungsergebnisse aus sieben Jahren FIT vorgestellt und um die neuesten Projektdaten ergänzt. Die Projektgruppe um Dr. Gordian Hubert vergleicht FIT-Patient*innen mit einer Patientengruppe, die regulär in das Schlaganfallzentrum verlegt und dort behandelt wurde. Bereits in 2022 waren Daten aus einem Beobachtungszeitraum von 3 Monaten ausgewertet und im weltweit hochrenommierten Fachjournal JAMA veröffentlicht worden. Es zeigte sich damals: Die fliegenden Ärzte sind deutlich schneller. Ein Zeitvorteil von im Schnitt 90 Minuten konnte für FIT-Flüge nachgewiesen werden, wodurch wertvolles Hirngewebe gerettet werden kann – denn beim Schlaganfall gilt „Time is brain“, es sterben 1,9 Millionen Nervenzellen pro Minute. Außerdem konnten bei den FIT-Patient*innen bereits nach 3 Monaten weniger Folgeschäden im Vergleich zu den Verlegungspatient*innen nachgewiesen werden. In den neuesten Projektdaten, die kurz vor der wissenschaftlichen Veröffentlichung stehen, wurden die Patientendaten nun über den verlängerten Beobachtungszeitraum von 12 Monaten ausgewertet. Der klinische Vorteil zeigt sich darin nochmal deutlicher. Die FIT-Patient*innen hatten deutlich weniger Behinderungen, mehr Lebensqualität und mehr Selbstständigkeit als die Vergleichsgruppe. Patient*innen in der FIT-Gruppe hatten sogar etwa doppelt so hohe Chancen, nach 12 Monaten einen besseren Gesundheitszustand zu erreichen und bleibende Behinderungen nach dem Schlaganfall zu reduzieren. Eine Analyse der FIT-Flüge aus sechs Jahren zeigt außerdem, dass die Qualität der FIT-Versorgung konstant hoch ist: Der Zeitvorteil von im Schnitt 90 Minuten und die im Vergleich zur Verlegepraxis höhere Rate an Eingriffen konnten konstant gehalten werden. Bei den verlegten Patient*innen konnte in 65 Prozent der Fälle ein Kathetereingriff stattfinden, bei FIT liegt die Rate bei knapp 90 Prozent.

Gesundheitsökonomische Auswertung: FIT kann sogar Kosten sparen
Für die Aufnahme in die Regelversorgung ist entscheidend, ob sich FIT nicht nur medizinisch, sondern auch finanziell rechnet. Deshalb hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Gremium im deutschen Gesundheitswesen, im Rahmen des Innovationsfonds eine gesundheitsökonomische Analyse gefördert. Das Ergebnis: FIT kann sogar Kosten sparen. Teuerster Posten ist die Hubschrauber-Akutversorgung. Durch bessere Ergebnisse und niedrige Reha-Kosten wird diese aber schon heute zu 70 Prozent ausgeglichen. Würde die Hubschrauberversorgung in den Rettungsdienst integriert oder FIT auf Südwestbayern oder ganz Bayern ausgeweitet, wäre sie sogar günstiger als die aktuelle Verlegepraxis. Da die FIT-Kosten insbesondere langfristig sinken, ist außerdem davon auszugehen, dass FIT bei Betrachtung der gesamten Lebenszeit der behandelten Patient*innen bereits heute langfristig rentabel ist. „Dass FIT den Patient*innen nutzt, ist unbestritten. Nun zeigen wir schwarz auf weiß, dass das Konzept auch das Gesundheitssystem entlasten kann“, so Dr. Gordian Hubert, FIT-Projektleiter und Chefarzt der Neurologie der München Klinik Harlaching.

Projektpartner und Finanzierung
Projektträger ist die München Klinik, Kooperationspartner sind die regionalen Kliniken des TEMPiS-Netzwerks. Die Finanzierung des Projektes erfolgt vollständig durch die gesetzlichen und privaten Krankenkassen. Die wissenschaftliche Auswertung wird durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege (StMGP) gefördert. Kooperationspartner für die Helikopterflüge sind die ADAC Luftrettung gGmbH sowie die HTM Helicopter Travel Munich GmbH. Mehr Informationen zum Projekt unter www.muenchen-klinik.de/tempis-fit

1.000 FIT-Flüge bedeuten durchschnittlich in Zahlen

 

  • 1.000 spezialisiert versorgte Schlaganfallpatient*innen in der Region
  • 90.000 entscheidende Minuten, die bei der Versorgung gespart wurden
  • 1.080.000 Kilometer gerettete Nervenbahnen – das entspricht einer Länge von rund 27 Erdumrundungen
  • Das FIT-Team besteht aus 5 fliegenden Neuroradiolog*innen, 18 fliegenden Angiographieassistent*innen (MTRA) und 15 Neurolog*innen für die Telekonsile
  • Jeden Tag von 8.00 Uhr bis 22.00 Uhr sind die fliegenden Heli-Ärzte im Einsatz

 

Judith Gerlach, Bayerische Staatsministerin für Gesundheit, Pflege und Prävention: „Bei einem Schlaganfall zählt jede Minute. Auch künftig sollten wir also alles dafür tun, Versorgung, wie sie durch ein Flying Intervention Team erfolgt, auch in der Versorgung zu etablieren – und auszuweiten. Denn dann könnten noch deutlich mehr Menschen davon in den ländlichen Gebieten Bayerns profitieren!“

Verena Dietl, Bürgermeisterin der Landeshauptstadt München: „Die Erfolgsgeschichte von TEMPIS mit seinem Projekt FIT verdeutlicht eindrucksvoll, was möglich ist, wenn sich Kliniken mit ihrer Expertise eng vernetzen. Sie zeigt auf, wie moderne Gesundheitsversorgung vorbildlich gestaltet und auch künftig gewährleistet werden kann. Als Gesundheitsbürgermeisterin bin ich besonders stolz darauf, dass wir mit unserer München Klinik dazu einen zentralen Beitrag leisten. Den Einsatz für ein Projekt, das oft Leben rettet und fast immer die Lebensqualität für die betroffenen Patient*innen verbessern kann.“

Dr. Götz Brodermann, Vorsitzender der Geschäftsführung der München Klinik: „Ich freue mich, dass wir in Harlaching den Nukleus der modernen Schlaganfallversorgung haben: von einer der ersten Stroke-Units in Deutschland, über unser telemedizinisches Netzwerk bis hin zur Thrombektomie, für die Neuroradiolog*innen per Hubschrauber einfliegen. Alle diese medizinischen Innovationen haben ein Ziel: die Patientenversorgung nachhaltig zu verbessern. Davon profitieren unser Gesundheitssystem, unsere Gesellschaft und zuallererst die betroffenen Patientinnen und Patienten.“

Dr. Gordian Hubert, FIT-Projektleiter und Chefarzt der Neurologie in der München Klinik Harlaching: „Der Schlaganfall ist eine hochakute Erkrankung, bei der schnelles Handeln über die langfristige Lebensqualität der Betroffenen entscheidet. Mit jedem Jahr FIT sehen wir den langfristigen Nutzen für unsere Patientinnen und Patienten deutlicher. Wir setzen uns weiter dafür ein, dass eine ortsunabhängige, schnelle Schlaganfallversorgung dauerhaft und im Rahmen der Regelversorgung noch mehr Betroffenen in Bayern und Deutschland zugutekommt.“

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Bildnachweis: Steffen Leiprecht.

Quelle: München Klinik gGmbH


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